DAS ERBE PLATONS
SYSTEM UND SYSTEMNEGATION HEUTE
Carlos Cirne-Lima (Porto Alegre, Br)
Der postmoderne Geist unseres Zeltalters hat uns allen sicherlich viel
Gutes eingebracht . Wir sind offener für das Andere geworden, wir
treten dem Fremden besser gegenüber als unsere Vorfahren und können
viel gütiger und verständiger damit zusammenleben. Das Postmoderne
jedoch, sofern es zum Status einer allgemeingültigen, d.h. einer
philosophischen Theorie erhoben wird, wird zu einem Selbstwiderspruch.
So wie der Skeptiker, der die Behauptung aufstellt „Alle Aussagen
sind falsch“ immer voraussetzt, dass mindestens diese eine Aussage
wahr sei, und damit sich selbst widerspricht, genauso widerspricht sich
der Postmoderne. Denn er behauptet, wenn er die Postmodernität als
allgemeingültige Philosophie hinstellt, dass es kein Prinzip gebe,
das für alle Bereiche gültig sei. Nun, mindestens dieses eine
Prinzip wird dabei als allgemeingültig vorausgesetzt. Die Postmodernität
setzt immer und notwendig mindestens ein allgemeingültiges Prinzip,
das nicht dem Postmodernen, sondern der klassischen systematischen Philosophie
entspricht. Die postmoderne Rationalität, so gut sie in partikulären
Bereichen sein mag, lässt sich nicht universalisieren, sondern setzt
ein Minimum an systematischer Rationalität voraus. Und so kommen
wir immer wieder zum System zurück, zu einem System, dass alles umfassen
und somit alles beinhalten muss. Manche werden dies als einen Fluch deuten,
der uns noch verfolgt. Wir selbst sehen es nicht als Fluch, sondern der
Tradition der philosophia perennis gemäss betrachten und schätzen
es als das grosse Erbe, das uns Platon hinterlassen hat.
Wir werden hier drei Punkte darzustellen versuchen: 1) Können die
Fehler, die das letzte grosse System – Hegels System – zum
Zusammenbruch führten, auf dem Horizont der Tradition von Platon
bis Schelling in präziser Weise verstanden und dargestellt werden?
2) Wie kann man heute – wenn überhaupt – ein Systemprojekt
im Geiste von Platon und Hegel so aufstellen, dass die angezeigten Grundfehler
vermieden werden? 3) Welche Rolle spielen dabei wissenschaftliche Theorien
der Gegenwart wie Darwins Evolutionstheorie, Bertalanffys Systemtheorie,
die deterministischen Chaostheorien, Prigogines Theorie über dynamische
Systeme, die Fraktalgeometrie? Wir werden hier die These aufstellen, dass
alle diese Theorien heute als Bestandteile von einem umafassenden philosophischen
Systemprojekt betrachtet werden müssen, da sie alle gleichsam Mechanismen
sind, die den Übergang vom Einem zum Mannigfaltigen mitgestalten.
1. Die Tradition und das letzte System
Das letzte grosse System unserer Tradition, Hegels System, brach aus drei
Gründen zusammen. Niemand konnte – erstens - überzeugend
erklären, wie der Widerspruch der Motor der Dialektik sein könnte;
Widerspruch ist ja etwas Irrationales und wer sprechend sich widerspricht
sagt eigentlich gar nichts. Die diesbezüglichen Einwände von
Aristoteles, Trendelenburg und von allen Logikern gegen die Dialektik
sind ohne eine voll befriedigende Lösung geblieben. Keine einzige
der vielen Rekonstruktionen von Hegels Logik hat bis heute den Konsensus
der Fachleute gewonnen . Der zweite grosse Einwand gegen das Hegelssystem
wurde ursprünglich von Schelling und danach von fast allen, die sich
damit beschäftigten, erhoben. Er betrifft die allmähliche Eliminierung
der Kontingenz . Das System beinhaltet zwar Kontingenz; Hegel führt
sie in der Logik als Kategorie unter dem Namen Zufälligkeit ein.
In der Naturphilosophie gibt es die Kontingenz. In der Rechtsphilosophie
ist es der Fortgang des Gedankens, der die Kontingenz nach und nach überwindet,
um sie schliesslich ganz auszuschliessen; durch die gradweise Entfernung
der Kontingenz kommen Sittlichkeit und Recht zustande. Obwohl am Anfang
jedes Systemteils Kontingenz vorhanden ist, wird sie in den letzten Kategorien
nicht aufgehoben, sondern regelrecht eliminiert. Der dritte Grund, warum
Hegels System zusammengebrochen ist, ist die Schwächung des Individuums
und die Tendenz zum politischen Totalitarismus. Das logisch Allgemeine
und das sittlich Kollektive, nämlich der Staat, werden so stark betont,
dass das konkrete Individuum mit seinen kontingenten Entscheidungen beinahe
verschwindet. Man könnte hier Hegel verteidigen und sagen, das sei
nur eine böse Interpretation; entscheidend ist aber, dass diese Interpretation
geistesgeschichtlich in den Vordergrund kam, die Meinung der meisten Philosophen
beeinflusste und über Karl Marx und Lenin die Weltpolitik lange Zeit
prägte. Der Widerspruch, die Kontingenz, die Schwächung des
Individuums bzw. die Tendenz zum Totalitarismus, das sind meiner Meinung
nach die drei Gründe, warum am Ende des 19. und am Anfang des 20.
Jahrhunderts Hegels System zusammengebrochen ist.
Leider haben aber die meisten von uns Philosophen nicht bloss das konkrete,
zugegebenerweise falsche System Hegels, sondern gleichzeitig auch das
grossartige Projekt der Philosophie als allumfassendes System aufgegeben.
Der Zusammenbruch von Hegels System hat den Platz freigemacht, wo sich
dann die sogenannte Postmodernität als dominierende Form der Philosophie
der Gegenwart breitmachte. Die vielen Perspektiven von Nietzsche, die
vielen Horizonte von Heidegger und die vielen Sprachspiele des zweiten
Wittgensteins nahmen den Platz ein, der früher dem System der Philosophie
eigen war.
Wenigen Philosophen des XX. Jahrhunderts ist Hegels Projekt der Philosophie
noch ein Anliegen geblieben. Die Versöhnung der Substanz von Spinoza
mit Kants freiem Ich ist den meisten Philosophen heute nur noch eine geschichtliche
Erinnerung an das Projekt von Hegel, ein Projekt, das ja, wie oben zugegeben,
misslungen ist. Wir aber, die Gruppe, die sich heute hier trifft , gehören
nicht zu den vielen Anhängern des nachmetaphysischen Denkens, sondern
zu diesen wenigen Philosophen, die fest überzeugt sind, dass das
Misslingen einer konkreten Systemausführung nicht bedeutet, dass
auch das Projekt eines allumfassenden System über Bord geworfen werden
muss.
Es sei mir darum erlaubt, in schnellen und groben Linien das ins Gedächtnis
zurückzurufen, was unsere Tradition als das grosse platonische Projekt
der Philosophie genannt und gewürdigt hat.
Platons Systemprojekt besteht aus der aufsteigenden und der absteigenden
Dialektik In der aufsteigenden Dialektik geht man von der mannigfaltigen
Vielheit unserer Welt aus, um thetische und antithetische Positionen als
ungenügend zu entlarven und so zu einer Synthese auf einer höheren
Ebene zu kommen, wo beide Seiten des Gegensatzes nun vesöhnt und
vereint sind. Aus der Zweiheit wird dabei immer Einheit. Aus der in unserer
Welt vorhandenen Vielheit steigen wir so Stufe um Stufe zur immer grösser
werdenen Einheit, bis wir zur Spitze der Pyramide kommen, zu den ersten
Prinzipien aller Dinge, das Eine und die noch unbestimmte Dyas (tò
hén, aóristos dyás). Die absteigende Dialektik geht
von der Einheit, von den zwei ersten Prinzipien aus und steigt –
wiederum Stufe um Stufe – zur immer grösseren Vielheit herunter.
Aus der Einheit des Einen, das ja das Gute ist, wird die Zweiheit des
ersten Paares von Gegensätzen gezeugt; dieser Vorgang wird von Platon
Dyadenbildung, von Hegel Entzweiung genannt. Aus dem Zwei werden dann
vier, aus dem Vier werden Acht usw., bis zur der konkreten Vielheit der
Dinge unserer Welt. Das Viele aus dem Einem heraus zu verstehen und zu
erklären, das ist die Aufgabe der absteigenden Dialektik. Von der
Vielheit der sinnlichen Welt zur Einheit des ersten Prinzips aufzusteigen,
um dann von diesem einem Prinzip heraus das Mannigfache der Welt zu verstehen
und zu erklären, das ist das philosophische Projekt Platons.
Die zwei ersten Prinzipien erzeugen die Ideen oder Formen, diese lassen
die Nummern aus sich entstehen. Aus den Prinzipien, Formen und Nummern
wird dann die Weltseele gezeugt, die ihrerseits die konkrete Welt aus
sich gebärt. – Das sind, wie wir alle wissen, die Grundlinien
von Platons System. Das ist Platons Erbe an die Tradition.
Bei Plotinus hat das System denselben Grundriss. Aus dem Einen, das den
ersten Teil des Systems darstellt, stammt der Lógos, der als allgemeine
Rationalität nur die Wiederspiegelung des Einen ist, und der den
zweiten Teil des Systems ausmacht, woraus dann die Weltseele – der
dritte Systemteil – entfliesst. Das Eine, der Lógos und die
Weltseele sind nach Plotin die drei grossen Stufen der absteigenden Dialektik.
Auch hier wird die Vielheit aus der Einheit heraus bestimmt und begriffen.
Ein Schüler Plotins, Porphyrius, hat uns sehr deutlich gezeigt, worum
es sich in der absteigenden Dialektik handelt. Von der einen Substanz
ausgehend werden Dyaden eingeführt in der Form eines auf dem Kopf
stehenden Baumes, sodass aus jedem Zweig immer je zwei neue Zweige entstehen,
bis ganz unten der Mensch als animal rationale steht. Dieser auf dem Kopf
stehende Baum, Porphyriusbaum, ist das Sinnbild von Platons absteigender
Diualektik (katábasis). Und es geht dabei nicht um reine formale
Logik, um ein bloss begriffliches Gebilde, sondern um handfeste Metaphysik.
Wie wir später noch sehen werden, scheint dieses Anliegen des Porphyrius
nach dem jetzigen Stand der Naturwissenschaften nicht so abwegig zu sein,
wie es noch vor wenigen Jahren der Fall war.
Bei Proclus ist das philosophische Projekt dasselbe, ganz ähnlich
ist die Ausführung. Das oberste Prinzip ist nicht das Eine, sondern
das Allgemeine. Vom Allgemeinen stammt dann der Lógos, der seinerseits
die Weltseele aus sich erfliessen lässt.
Bei Augustinus steht als erster Teil des Systems das Absolute, d.h. der
dreieine Gott. Aus dem Vater, der der Anfang ist, stammt der Sohn, der
dem Vater bezüglich seiner Vollkommenheit gleich ist, der sich aber
dem Vater entgegensetzt. Wenn Vater und Sohn sich in Liebe zueinander
wenden, entsteht aus beiden der Heilige Geist, der Vater und Sohn in seiner
Vollkommenheit gleich aber singulär von beiden verschieden ist. Identität
und Differenz werden hier von Augustinus meisterhaft gegeinandergespielt.
Der dreieine Gott ist zugleich das absolut Eine und eine absolute Dreiheit,
weil die zirkuläre Fliessbewegung der Dreiheit aus den Einheit stammt
und immer wieder zur Einheit wiedekehrt. – Der dreieine Gott, der
erste Teil des Systems, ist aber in seiner Fülle so vollkommen, dass
er gleichsam überfliesst und damit die Natur als etwas von ihm Verschiedenes
schafft; das ist der zweite Teil des Systems. Der Mensch aber, der ja
der König der Natur ist, sündigt gegen Gott und gegen sich selbst.
Damit klaffen beide Systemteile auseinander. Der dreieine Gott und die
von ihm abgefallene Natur stehen nicht mehr in Harmonie, sondern in einer
einander ausschliessenden Entgegensetzung. So wird ein dritter Teil des
Systems notwendig, der den ersten und den zweiten Teil wieder zur Einheit
bringt. Das geschieht in der Wiederversöhnung des dreienen Gottes
mit der abgafallenen Natur: Gott wird ein Mensch unter Menschen und die
ganze Menschheit mitsamt Natur werden, wenn sie es so in Freiheit wollen,
zum Himmlischen Jerusalem, d.h. sie werden in die Gottheit erhoben und
werden participes naturae divinae.
Bei Nicolaus Cusanus, der in der Tradition von Augustinus steht, bildet
der Deus unus et trinus, der das maximum absolutum ist, den ersten Teil
des Systems. Die natura criata, maximum contractum, macht den zweiten
Teil des Systems aus; die Natur ist zwar das maximum, ist aber gleichsam
in sich zusammengeschrumpft, darum maximum contractum. Der dritte Teil
des Systems wird in Jesus Christus, dem Gott-Menschen konkretisiert, der
das maximum contractum et absolutum ist.
Bei Giordano Bruno, der an Cusanus anschliesst, ist das Unum, monas monadum,
der erste Systemteil. Aus dieser ersten Monas fliesst die anima mundi,
die Weltseele, und aus dieser die Vielheit der konkreten Welt. Bei Baruch
Spinoza, der an die in der jüdischen Kabala enthaltene neuplatonische
Tradition anschliesst, ist der erste Teil des Systems Deus sive natura.
Dieser Gott ist causa sui; aber Gott ist nicht bloss Ursache von sich
selbst, sondern auch Ursache der Welt, er ist causa naturans. So entsteht
der zweite Teil des Systems, die natura naturata, die aus Gott stammende
Natur. In der Ethica wid der dritte Teil des Systems seinen Höhepunkt
erreichen und sowohl dia natura naturans wie auch die natura naturata
vereinigen.
Bei Schelling, der ja schon im Paradigma des Subjekts steht, ist die Subjektivität
die These, erster Teil des Systems, und die Objektivität die Antithese,
zweiter Teil des Systems. Der dritte Systemteil, der die beiden ersten
in einer Synthese vereinigt und versöhnt, ist die Identität
von Subjektivität und Objektivität.
Bei Hegel besteht das System aus Logik, Naturphilosophie und Geistphilosophie.
Die Logik entlässt die Natur aus dem eigenen Inneren. In der Natur
ist die Logik sich selbst entäussert und entfremdet. Im Geiste werden
These und Antithese wieder vereinigt und versöhnt.
Die erste grosse Frage, die man an Hegels System stellen muss, ist folgende:
Woher kommt die inhaltliche Vielheit? Kann sie rein a priori deduziert
werden? Mit welcher Notwendigkeit? Und wenn die Antwort darauf negativ
sein sollte, stellt sich dann diesselbe Frage neu auf: Woher dann kommt
die Vielheit? – Diese Frage – das wissen wir – wurde
von niemandem zufriedenstellend beantwortet. Alle Versuche, Hegels Logik
Schritt für Schritt zu rekonstruieren sind fehlgegangen. Aber Hegels
System ist nicht bloss wegen dieser einen nicht beantworteten Frage zurückgewiesen
worden. – Hegels System brach aus drei Gründen zusammen: 1)
Niemand konnte überzeugend erklären, wie der Widerspruch rational
sei, wie er als der Motor der dialektischen Methode wirken könnte
(Trendelenburg). 2) Die Kontingenz wurde schrittweise aus dem System ausgeschlossen,
sodass die Geschichte zur Logik wurde (Schelling). 3) Das Individuum in
seiner kontingenten Freiheit wurde nicht genügend gewürdigt
(Kirkergaard, Nietzsche).
Hegels System ist aus Gründen zusammengebrochen, die wir genau kennen
und exakt lokalisieren können. Und so stellt sich die Frage: Darf
man nach Hegel noch ein System bauen? Darf man es wagen? Die Antwort darauf
ist ein entschiedenes Ja. Ja, man muss es wagen, sonst verfällt man
in den vorhin dargestellten Selbstwiderspruch der Postmodernität.
2. Ein Systemprojekt
Drei Vorbemerkungen seien hier vorausgeschickt: über den Widerspruch,
über das Individuum und über die Kontingenz.
Die von Trendelenburg, von Popper und von den analytischen Philosophie
erhobene Einwand, dass der Widerspruch irrational sei, und dass kein philosophisches
System daraus gebaut werden könne, ist relativ leicht zu entkräften.
Ich gebe zu, ja, ich behaupte mit Aristoteles und mit allen Logikern,
dass niemand den Widerspruchsatz negieren kann; wer das tut, kann nicht
mehr sinnvoll sprechen, weil das je Gesagte immer wieder zum Ungesagten
wird. Aristoteles hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass so jemand auf
den Status einer Pflanze zurückversetzt wird. – Aber wie steht
es dann mit dem Widerspruch bei Hegel? Karl Popper hat schon darauf hingewiesen;
Johann B. Lotz hat es im Pullacher Wörterbuch der Philosophie (Stichword
Dialektik) ausgesprochen; Klaus Düsing kommt immer wieder darauf
zurück. Wenn Hegel von Widerspruch redet, meint er nicht das, was
die Logiker Widerspruch nennen, sondern das, was seit Aristoteles Kontrarietät
genannt wird . These und Antithese sind nicht zwei kondradiktorisch, sondern
zwei konträr entgegensetzte Aussagen. Und zwei konträre Aussagen
können – darin herrscht wiederum seit Aristoteles Übereinstimmung
– ohne weiteres falsch sein; und gerade das und nur das behauptet
die Dialektik. Der Beweis dafür, dass es bei Hegel nicht um kontradiktorische,
sondern um konträre Aussagen handelt, ist nicht so leicht so erbrigen,
weil das logische Subjekt und darum auch der Quantor bei Hegel fast immer
unausgesprochen bleiben. Die Logik beginnt bekanntlich mit einem Anakolut:
Sein, unbestimmtes Sein, Sein ohne jede Bestimmung. Um zeigen zu können,
dass diese These und die entsprechende Antithese (das Nichts) nicht kontradiktorische,
sondern konträre Aussagen sind, muss man das logische Subjekt mit
seinem Quantor zu Lichte bringen und explizit machen. Von was oder von
wem sagt Hegel, dass es Sein ist? Und gleich danach, Nichts? In der Enzyklopädie
klärt uns Hegel darüber auf: alle Kategorien der Logik werden
immer nur vom Absoluten ausgesagt. Im Klartext ist die These also Das
Absolute ist Sein, die Antithese ist Das Absolute ists Nichts. Beide Aussagen
haben dasselbe logische Subjekt und denselben logischen Allquantor; These
und Antithese sind also nicht kontradiktorisch, sondern konträr entgegengesetzt.
Der Einwand von den Logikern gegen die Rolle des Widerspruchs in der Dialektik
ist somit klar und sauber beantwortet: Wenn Dialektiker vom Widerspruch
sprechen, meinen sie immer die Kontrarietät. These und Antithese
sind konträr entgegensetzt und können darum beide falsch sein.
Der zweite Einwand sagt, dass das Individuum im System nicht richtig gewürdigt
wird. Die individuelle Freiheit, die zwischen kontingenten Alernativen,
eine bestimmte – und nicht die andere – auswählen kann,
sei bei Hegel nicht klar behauptet und verteidigt wie etwa bei Kant. Meine
Antwort darauf, besteht nicht in einer Verteidigung der Position Hegels,
wie vorhin; im Gegenteil, ich selbst meine, dass Hegels Begriff der Freiheit
tatsächlich unklar und inhaltsarm ist. Man ist nie sicher, ob Hegel
unter Freiheit das Bewusstsein der Notwendigkeit einer völlig deterministischen
Welt oder die freie Auswahl zwischen kontingenten Alternativen versteht.
Das hängt offensichtlich mit dem dritten Einwand, d.h. mit Hegels
Begriff der Kontingenz zusammen.
Der dritte Einwand betrifft die die Kontingenz. Das Problem der Kontingenz
ist im System Hegels meines Erachtens schwieriger zu sanieren. Obwohl
Kontingenz – unter dem Terminus Zufälligkeit – als Kategorie
in das System der Logik explizit eingeführt und definiert wird ,
wird sie gleich in die Kategorie der Notwendigkeit dialektisch hineingenommen
und kaum je unter dem eigenen Namen erwähnt. Im Gegenteil, im Laufe
der Ausführungen wird sie schrittweise entfernt , sodass am Ende
jedes Systemteiles die Notwendigkeit immer nur als reine Notwendigkeit
bleibt. Das heisst: Der dominierende Modaloperator des Systems ist eine
Notwendigkeit, in der die Kontingenz nicht richtig aufgehoben, sondern
aus der sie schlichtweg eliminiert wurde. Die Frage ist nun: Wie kann
man die Kontingenz so tief ins System hineingeben, dass sie darin bleibt
und nicht aus dem System hinausmanipuliert wird? Wie macht man, dass sie
wirklich aufgehoben, d.h. auch aufbewahrt, und nicht einfach entfernt
wird? - System und Kontingenz scheinen sich einander auszuschliessen,
denn alle Systeme der neuplatonischen Tradition leiden, wie man weiss,
unter diesem Fehler, d.h. sie sind tief vom Necessitarismus geprägt.
Dies gilt fur Platon selbst, aber auch für Plotinus, Proclus, Augustinus,
Nicolaus Cusanus, Spinoza, Schelling, Hegel und Karl Marx. Auch wenn einige
von ihnen, wie Augustinus, die Kontingenz und die freie Wahl verteidigen
wollen, das System wird von einer Art Notwendigkeit geprägt, die
Freiheit im gegenwärtigen Sinn ausschliesst (praedestinatio, gratia
efficax).
Den Weg zu einer befriedigenden Lösung zur Kontingenzfrage finden
wir in der Theory of Games. Wir sind in der Philosophie gewöhnt,
mit einem einzigen Typ von Rationalität zu arbeiten. Wenn wir von
Rationalität reden, meinen wir immer nur die Rationalität mit
einem starken Modaloperator wie in der arithmetischen Folge der Zahlen
oder in der modernen Logik (modale Systeme S1, S2, S3, S4 und S5). Auf
diesem Wege aber, der in der Moderne und in der Gegenwart der übliche
ist, kommen wir immer nur zum einem Necessitarismus und dann gibt es wirklich
keinen Platz mehr für die Kontingenz und für die freie Entscheidung.
Wir sind so blind geworden, dass wir Systeme mit schwächeren Modaloperatoren
meistens nicht kennen und nicht benützen. Aber solche Systeme werden
in der Physik, Biologie und anderen Wissenschaften häufig benützt.
Ich meine hier hauptsächlich die Modalstruktur der parakonsistenten
Logiken, der deontischen Logik und ganz speziell der Theory of Games .
All die genannten Systeme arbeiten mit einem schwächeren Modaloperator,
d.h. mit einem Modaloperator, der nicht einfach identisch ist mit der
Notwendigkeit der klassischen Logik. In der Theory of Games, z. B. im
Schachspiel (oder im Fussballspiel), werden folgende Modaloperatoren benützt
und immer vorausgesetzt:
Möglichkeit Spielalternativen
Notwendigkeit Regeln
Faktizität der gemachte Schachzug
Sollen Taktik und Strategien
Diese Rationalität mit schwächeren Modaloperatoren ist universeller
als die übliche Modallogik und macht Kontingenz und Faktizität
im System möglich. Daraus folgt, dass das vorgeschlagene System mit
dieser und nicht mit der klassischen Modallogik arbeiten muss. Der Grundoperator
wird demnach nicht die harte Notwendigkeit der heutigen Logiker, sondern
ein schwächerer Modus der Notwendigkeit, nämlich das Sollen.
Nicht das notwendige Müssen, sondern das Sollen ist der universellere
Modaloperator des Systems; dies gilt für die Logik, für die
Naturphilosophie und für die Geistesphilosophie. Hegels System wurde
hier an der Wurzel geändert und – so hoffe ich – saniert.
Wenn man also das neuplatonische Projekt nicht aufgeben will, wenn man
wieder einmal ein System in seinen grossen Grundlinien entwerfen wird,
dann muss man von vornherein diese drei Einwände berücksichtigen.
Man muss sie also schon im ersten Anfang so berücksichtigen, dass
die entsprechenden Probleme im neuen Systementwurf gar nicht auftauchen
können. Gerade das wird hier beabsichtigt und in der Folge als Vorschlag
eines Systementwurfs kurz skizziert. Dieser Systementwurf wird als Hauptmerkmal
den Minimalismus aufweisen, d.h. es wird nur ein systematisches Minimum
eingeführt. Das System soll so kurz und karg wie nur möglich
dargestellt werden. Es erhebt also nicht den Anspruch, vollständig
zu sein. Im Gegenteil, nur jene minimalen Prinzipien und Subprinzipien
sollen eingeführt werden, ohne die das System gar nicht stehen kann.
Die deflationistische Darstellungsweise hat den Vorteil, dass man jeden
kleinsten Fehler klar sehen und lokalisieren kann; aber sie hindert uns
nicht daran, später alles Übrige dazuzutun, damit das System
Fleisch und Blut bekommt. Im Augenblick interessiert uns nur das Knochengerüst.
Das vorgeschlagene System besteht , wie es in der neuplatonischen Tradition
nicht anders sein könnte, aus drei Teilen: Meta-Logik, Meta-Physik
(und Meta-Biologie) und Meta-Ethik. Im schliesse hier offensichtlich an
Hegel an: Logik, Naturphilosophie und Geistesphilosophie. Es sei mir hier
erlaubt, auf frühere Arbeiten zu verweisen, wo ich diesen Ansatz
ausführlich dargestellt habe. Knapp zusammengefasst, haben wir Folgendes:
1. Meta-Logik
2. Meta-Physik
Meta-Biologie
3. Meta-Ethik
Die Meta-Logik besteht aus einem einzigen Prinzip, das aus drei Momenten
besteht:
1. Identität
einfache Identität A
iterative Identität A, A, A ...
reflexive Identität A=A
2. Differenz
nicht vorprogrammiertes B
3. Kohärenz
ein Pol eliminiert den anderen Pol
verschiedene Aspekte werden erarbeitet, sodass die Kohärenz
wiederherstellt wird
Identität, Differenz und Kohärenz sind dabei nur Momente des
ersten Prinzips des Systems. Sie konstituieren sich gegenseitig und gehen
ineinander über, wie gleich zu sehen ist. Ich möchte hier darauf
aufmerksam machen, dass weder die Identität noch die Kohärenz
je in der Geschichte der Philosophie in Frage gestellt worden sind. Identität
ist ja die Tautologie und Tautologien sind immer wahr. Auch das Kohärenzprinzip
wird von niemandem ersthaft negiert, denn das, was da gesagt wird, ist
nichts anderes als der Widerspruchssatz. Die Subprinzipien von Identität
und Kohärenz werden von niemandem negiert. Ein echter Zweifel hingegen
könnte aufkommen bezüglich der so definierten Differenz. Niemand
leugnet die Differenz als solche, aber die hier eingeführte und definierte
Differenz hat als charakteristisches Merkmal die Tatsache, dass sie in
der Identität bzw. in den Identitätsformen nicht vorprogrammiert
ist. D.h. aber, dass die von uns definierte Differenz nicht im A oder
im A,A,A... oder im A=A enthalten und darum auch nicht aus A oder A,A,A...
oder A=A abzuleiten ist. Hier – gerade hier, wie wir sehen werden
– werden im Systementwurf die Kontingenz und die Geschichtlichkeit
verankert. Gerade hier ist der Ort, wo a priori und aposteriori sich ursprünglich
verschränken. Stimmt dieses Subprinzip? Ich möchte Sie zunächst
bitten, es als nützliche Arbeitshypothese anzunehmen. Nur vom Ganzen
her, nur vom System als einem zusammenhängenden Ganzen her wird es
ersichtlich, dass diese nützliche Arbeitshypothese eine wahre Proposition
ist. Schon hier – im Kern des ersten Prinzips – ist nicht
alles rein a priori zu erhärten, schon hier tritt die universelle
Kohärenz, die auch mit der empirischen Welt kohaerent sein muss,
als allgemeingültiges Wahrheitskriterium auf. Ist das aber nicht
ein Beweis a posteriori? Ja, und es muss so sein, denn die Wahrheit ist
das Ganze und das Ganze enthält auch Empirisches, also etwas a posteriori.
Man wird dazu fragen: Muss aber dieses a posteriori schon im ersten Prinzip
enthalten sein? Meine Antwort ist: Ja, gerade darin liegt die Pointe.
Die Meta-Logik entlässt, kraft der Bewegung, die ihr inne ist, die
Meta-Physik und die Meta-Biologie. Da den Physikern die Vereinigung von
Quantenmechanik und Gravitation noch nicht gelungen ist, beschränken
wir uns hier auf die Meta-Biologie, wo die synthetisierende Arbeit schon
geleistet worden ist.
META- LOGIK META-BIOLOGIE
1. Identität
einfache Identität A
iterative Identität A,A,A ...
reflexe Identität. A=A
Individuum
Reproduktion, Replikation
Gattung
2. Differenz
das Neue, B
Emergenz des Neuen
Mutationen durch Zufall
3.Kohärenz
Eliminierung eines Pols
Erarbeitung von Aspekten
Tod (natürliche Auswahl)
Anpassung (nat. Auswahl)
Aus den Subprinzipien der Meta-Logik lassen sich die Subprinzipien der
Meta-Biologie ableiten. Ja, eigentlich handelt es sich hier gar nicht
um ein Ableiten, sondern um eine blosse Transliteration. Wenn man die
Grundoperatoren der Meta-Logik mit den entsprechenden biologischen Namen
benennt, entsteht wie von selbst die Meta-Biologie. Derselbe metalogische
Sinngehalt wird, wenn in biologischer Sprache ausgedrückt, zu einem
Operator der Meta-Biologie. Noch erstaunlicher ist aber, dass die so formulierten
Subprinzipien der Meta-Logik den harten Kern der Evolutionstheorie wiedergeben.
Die hier vorgeschlagene Meta-Biologie ist eine minimalistisch formulierte
Theorie der Evolution, so wie sie von Charles Darwin und den meisten heutigen
Biologien vertreten wird. Diese Meta-Biologie ist ausserdem eine deflationierte
Systemtheorie; alle wesentlichen Merkmale einer system theory, wie sie
von Bertalanffy , Luhmann , Maturana , Capra und so vielen anderen verteidigt
wird, sind hier vorhanden. – Über eine Meta-Physik kann man
meines Erachtens erst dann sinvoll reden, wenn eine Vereinigung der Quantenmechanik
mit der Relativitätstheorie vorliegt.
Aus des Subprinzipien der Meta-Logik und der Meta-Biologie entspringen
die Subprinzipien der Meta-Ethik, die im grossen und ganzen zu denselben
konkreten Geboten und Verboten kommen, wie sie von den modernen Ethikern
wie etwa Habermas, Apel, Charles Taylor, McIntire usw. seit Jahren vertreten
werden.
META-LOGIK META-BIOLOGIE META-ETHIK
1. Identität
einfache Identität
iterat. Identität A,A,A..
reflexive Identität A = A
Individuum
Reproduktion
Gattung
Person
Familie
Gesellschaft
2. Differenz
das Neue, das Differente
Emergenz des Neuen
Mutation durch Zufall
Freiheit
Erfindung
3. Kohärenz
Eliminierung eines Poles
Nötige Unterscheidungen
Tod (nat. Auswahl)
Natürliche Auswahl
Das Übel
Das Gute
Die Einführung der Kontingenz und des Sollens als Grundoperator
schafft Platz für eine freie Auswahl zwischen Alternativen und somit
für echte Ethik, Verantwortung, Demokratie usw. Auch die Geschichte
wird voll gewürdigt; sie ist nicht die notwendige Aufeinanderfolge
von vorprogrammierten Ereignissen, sondern die reife Frucht unserer gemeinsamen
Entscheidungen.
Hier wird die Frage unausweichlich: Wie bewegt sich das Ganze? Woher
kommt die Bewegung ins System? Von aussen kann sie nicht kommen, denn
es gibt nichts im System des Universums, was ausserhalb des Systems stünde.
Also, woher die Bewegung? - Kehren wir zum ersten Prinzip, zur Meta-Logik
zurück Ein Prinzip, wenn es wirklich universell sein soll, muss auch
auf sich selbst anwendbar sein. Das erste Prinzip ist universell, sonst
ist es nicht wirklich Prinzip. In diesem Falle, im Falle der Selbstanwendung,
wird das erste Prinzip aber zu einer strikten meta-logischen Antinomie
. Die Identität ist mit sich selbst identisch, die Kohärenz
ist mit sich selbst kohärent und die Differenz ist von sich selbst
different. Bei Identität und Kohärenz gibt es kein Problem.
Aber die Differenz der Differenz wird zu einer Antinomie mit folgenden
zwei Hörnern:
1.Wenn die Differenz von sich selbst different ist,
dann ist sie nicht Differenz, sondern Identität.
2. Wenn sie aber Identität ist, d.h. identisch mit der Differenz,
dann ist sie nicht Identität, sondern eben Differenz.
Und so geht die antinomishe Bewegung ad infinitum; die pulsierende Antinomie
entspricht dem, was Hegel die ungeheuere Kraft der Negation genannt hat.
– Man kann nicht rationell bei einer Antinomie verharren. Antinomie
ist ja etwas Irrationales; die pulsierende Kraft ist zwar ungeheuer, aber
sie baut nicht auf, sie zerstört nur. Aufbauend wird die pulsierende
Bewegung, wenn die Antinomie gelöst wird. Erst dann wird die ungeheuere
pulsierende Krakt zum Motor des dialektischen Systems. - Antinomien entstehen
durch den negativen Selbstbezug; Antinomien werden seit B. Russell und
Tarski gelöst, indem man neue Sprachebenen einführt und unterscheidet.
Im ersten Prinzip gibt es jedoch noch keine Differenzierung, keine Ebenen.
Und da es in ihm noch keine verschiedenen Typen, Ebenen oder Aspekte gibt,
führt die pulsierende Antinomie notwendigerweise zur Erzeugung von
Aspekten, Ebenen, Typen innerhalb des im Entstehen begriffenen Systems.
Die Antinomie, wenn sie sich auflöst, führt zu einer Mannigfaltigkeit
von Ebenen, Typen, Aspekten usw., die mindestens faktisch sind . Dies
ist das erste Faktum. Die kontingente Geschichte hat begonnen; kontingent,
ja, denn jede beliebige Verschiedenheit genügt, um die Zweiheit der
Ebenen entstehen zu lassen, die dann die Antinomie auflösen.
3. Das System und die Wissenschaften
Auf die oben beschriebene Weise entsteht das Viele aus dem Einen. Aus
dem einen einzigen ersten Prinzip der Meta-Logik entsteht die Vielheit
und die Mannigfaltigkeit nicht bloss logischer Entitäten wie auch
der vielen Dinge der Natur und der Personen in der Welt des Geistes. Aus
dem Einen entsteht die Vielheit, so wie Platon und alle Neuplatoniker
bis Hegel es wollten. Aus dem Einen wird das Mannigfache erklärt;
nicht aber abgeleitet, denn der Entwicklungsprozess in der Natur ist kontingent,
und wir Menschen bestimmen frei unser Leben. Die Philosophie des Geistes
ist wesentlich eine Philosophie der Geschichte der Freiheit. Die Philosophie
der Natur ist eine Naturgeschichte, wo manchmal auch Zufälle den
Lauf der Dinge bestimmen. Auch in der Philosophie der Logik gibt es Kontingenz
und Sollen, denn überall dort, wo die Kohärenz nicht streng
notwendigkeit ist, ist sie ein Sollen (due distinctions).
Aus der Einheit entsteht die Vielheit durch drei Operatoren. Diese drei
Operatoren erklären einen grossen Teil unseres Universums. Durch
die einfache Iteration A, A, A... entsteht die Tautologie und aus der
Tautologie entstehen die verschiedenen Logiken und Mathematiken. Durch
die Iteration mit einer kleinen Mutation entstehen die Evolutionstheorie
und die Chaostheorien mit der unendlichen Verschiedenheit von Formen und
Prozessen, die wir aus der Natur kennen. Durch die kummulative Iteration
entstehen dann die Fractals, die wiederum immer mehr Gestaltungen der
Natur verständlich machen.
Dies alles jedoch hängt zusammen mit dem Subprinzip der Differenz,
d.h. mit der Entstehung vom Neuen. Auch die kleinste Mutation setzt schon
etwas Neues voraus, etwas, das nicht bloss die ursprüngliche Identität
ist. Die Emergenz des Neuen, die ja schon in der Iteration mit kleiner
Mutation vorausgesetzt wird, ist letzten Endes eine aitia heatou (Aristoteles,
Plotin), eine causa sui (Spinoza), eine Wechselwirkung (Hegel). Denn sie
stammt nicht aus der Reihe A,A,A... oder aus der Identität von A=A,
sondern ist eben etwas Anderes, etwas Neues, eine Mutation. Dieses Neue,
diese neue Organisationsform wird dabei nicht von einer aussen stehendenen
Ursache bewirkt, sondern ist eben Selbstorganisation.
Negiert die hier operierende Emergenz des Neuen den Satz vom Grunde? Ja,
wenn man den Grund als etwas denkt, das immer und notwendigerweise aussen
steht. Die Folge einer solchen Annahme ist der Necessitarismus in Natur
und Geschichte. Die richtige Antwort ist aber Nein, wenn man mit Plotin,
Spinoza und Hegel die Relation Ursache-Wirkung zirkulär denkt. Grund
kann ja ein innerer Grund sein, causa sui, aitia eautou. Die Folge davon
ist ein offenes, kontingentes System.
Der Übergang vom Einen zum Vielfältigen wird hier nicht rein
a priori gemacht, sondern entwicklungsgeschichtlich. Nicht reine Logik,
sondern Naturgeschichte und Geistesgeschichte sind hier am Werk. Das vorgeschlagene
System ist nicht eine aprioristische Theorie, sondern ein System wo a
priori und a posteriori seit dem ersten Anfang miteinander verschränkt
sind. Die Philosophie erweitert sich und schliesst dann sowohl die Naturgeschichte
wie auch die Geistesgeschichte ein. Physik, Biologie usw. und Geschichte,
wenn richtig verstanden, sind materiale Bestandteile der allumfassenden
Philosophie, scientia universalissima. Hegel hatte darin wiederum Recht.
Die heutigen Theorien, die den meta-logischen Operationen entsprechen
und somit als Bestandteile einer allumafassenden Philosophie gewertet
werden müssen, sind:
1. Evolutionstheorie
1.2. Artificial Life Charles Darwin
Langton , Tom Ray , Chr. Adami
2. Theorien der Selbstorganisation
2.1. Systemtheorien
2.2. Cibernetics
2.3. Dynamische Systeme
Ludwig von Bertalanffy
Norbert Wiener
Ilya Prigogine
3. Chaostheorien Edward Lorenz , David Ruelle
4. Fractals Benoit Mandelbrot
Die direkten Beziehungen zwischen den meta-logischen Operationen und den
einzelnen Wissenschaften erlauben uns folgende Zusprechung:
Iteration mit kleiner Mutation, die immer aleatorisch ist Evolutionstheorie
(artificial life)
Systhemtheorie
Iteration mit kleiner Mutation, die aber der Zahlenreihe folgt Chaostheorien
Kumulative Iteration Fractals
Kombination beider Dieser Systementwurf
Zur obigen Tafel eine wichtige Bemerkung. Eine kleine Mutation, wenn sie
aleatorisch ist, führt zur Konstruktion der Evolutionstheorie und
der Systemtheorien. Eine kleine Mutation, die aber der Reihenfolge der
Zahlen strikt folgt, führt zu den Chaostheorien. Über die dynamischen
Systeme, die philosophisch so ungeheuer wichrtig sind, bin ich noch nicht
sicher, wohin sie gehören.
Noch ein Wort zu den dynamischen Systemen, d.h. zu Prigogine. Das dynamische
System steht, wenn es sich ausser seinem Gleichgewichtspunkt befindet,
vor einer Bifurkation. Das System “entscheidet” sich dann
für eine Alternative und verwirklicht sich so und nicht anders. Das
ist nicht vorprogammiert. – Wenn diese These Prigogines stimmt,
wird unser oben formuliertes meta-logische Subprinzip der Differenz auch
empirisch legitimiert. Wenn nicht, so hat der Verteidiger der gegenteiligen
These das onus probandi, denn er behauptet mehr, nicht ich. Auch hier
ist der Minimalismus ein zusätzlicher Beweisgrund; Ockham hatte darin
Recht. Aber der entscheidende Grund zur Rechtfertigung des meta-logischen
Subprinzips der Differenz besteht darin, dass das so gebaute System –
mit dem Subprinzip der Differenz – mit dem Universum kohärent
ist, in dem wir tatsächlich leben. Kontingenz, Faktizität, Geschichtlichkeit,
Freiheit, Verantwortung, Rechtlichkeit usw. können nur so erklärt
werden. Ein System, das ohne die so definierte Differenz konstruiert wird,
entspricht weder der Natur noch dem Geiste. Das Wahrheitskriterium, das
hier auf das System angewandt wird, ist eben die universelle Kohärenz:
wahr ist immer nur das Ganze.
Ich bin in den obigen Ausführungen zu einem neuen Systementwurf oft
von Schelling und Hegel abgewichen. Aber die enge geistige Verwandschaft
mit ihnen ist nicht zu übersehen. Ich will ja, wie anfangs gesagt
worden ist, wieder einmal den Versuch machen, einen neuplatonischen und
neuhegelianischen Systementwurf zu skizzieren.
Systementwürfe in der neuplatonischen Tradition, sobald sie veröffentlich
werden, bekommen ein Leben, das ihnen eigen ist, und lösen sich somit
von seinem kontingenten Autor. Das System, richtig oder falsch, mit Eigenleben
beseelt, tritt in die Welt des Geistes ein und muss nun sich selbst zur
Probe stellen, sich, wenn nötig, korrigieren; es muss leben und sich
entfalten, muss leben und sterben. Denn die kontingente Darstellung eines
Systems ist immer nur geschichtlich. Das System aber lebt weiter, auch
wenn seine Darstellung – auch und besonders diese – immer
wieder stirbt. Denn das System ist das Ganze, und das Ganze ist für
immer.
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